Dieter Schenk

Dr. Horst Herold

Ich machte 1995 meinem Verlag den Vorschlag, die Biographie von Horst Herold zu schreiben. Rowohlt-Chef Michael Naumann meinte, ich brauche es gar nicht erst zu versuchen, Horst Herold habe bereits mehrfach - auch gegenüber anderen Verlagen - eine Biographie abgelehnt. Außerdem hatte ich bereits das kritische Buch „BKA – Die Reise nach Beirut“ veröffentlicht (1990). Als er sich doch und überraschend auf mich einließ, begründete er es damit, dass ich seine Intentionen, die des Juristen und Kriminalisten, verstehe und polizeifachliche Zusammenhänge beurteilen könne. Er meinte, jeder andere Publizist würde ihn wahrscheinlich falsch interpretieren.

Ich habe viele Stunden mit ihm über seine innovativen Ideen gesprochen, war beeindruckt von seinen intelligenten Analysen, wie von seinem präzisen Erinnerungsvermögen, bewunderte auch manchmal seine schauspielerische Formulierungskunst. Frau und Herr Herold waren charmante Gastgeber in ihrem so geschmackvoll eingerichteten und gleichzeitig verpönten Haus auf dem Gelände der BGS-Kaserne in Rosenheim, wo Herold prozessieren musste, damit er eine gesonderte Zufahrt erhielt, als er nicht mehr als Zielscheibe der RAF gefährdet war. Der Staat hat ihm nichts gedankt und sein Leben unbegreiflich erschwert.

Wir hatten einen ernsthaften Konflikt, als ich ihm zunächst nicht abnahm, dass er, der fast noch jugendliche Kriegsteilnehmer im Rang eines Oberleutnants, zwischen 1940 und 1944 keine Kriegsverbrechen registriert habe. Das Buchprojekt drohte zu scheitern. Die Verantwortlichen der damaligen (ersten) Wehrmachtausstellung sagten mir am Telefon: „Er nahm am Russlandfeldzug teil und sagt nicht die Wahrheit.“ Doch Vertreter des Militärarchivs Potsdam und des Bundes-Militärarchivs Freiburg meinten, dass es den Tatsachen entsprechen dürfte, wenn er ausschließlich als Panzerkommandant den Krieg erlebte, also nicht bei militärischen Stäben eingesetzt war, über welche z.B. Ereignismeldungen der Einsatzgruppen nach Berlin abgesetzt wurden. Ich glaubte ihm. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich ihn als ehrenwerten, aufrichtigen, oft auch selbstkritischen, Menschen kennengelernt hatte. Seine Empörung konnte ich nachvollziehen: „Ich habe mich nicht dafür zu rechtfertigen, dass ich in diesem schrecklichen Krieg für mein Vaterland den Kopf hingehalten habe.“

Herold überlebte die Panzerschlacht in der Don Offensive (1941), wurde schwer verwundet und durch einen zufällig neben ihm stehenden Sanitätspanzer gerettet. Er bezeichnete „seinen“ Panzer als grausames und furchtbares eisernes Gefängnis mit eingeschränkter Sicht in nur einem begrenzen Ausschnitt nach vorne.

Er erfand ein Panzer-Ziel-Gerät und erhielt dafür das Kriegsverdienstkreuz.

Herold stellte sich eine autorisierte Biographie vor, das war für ihn so selbstverständlich, dass wir nichts darüber vereinbart hatten - wie es für mich selbstverständlich war, dass das gar nicht in Frage kam. Als er nach Wochen der intensiven Gespräche beiläufig sagte, er möchte mir doch beim Schreiben ab und zu „über die Schulter blicken“, lehnte ich das ab, weil dann dass Buch mit der Schere im Kopf entstehen würde. Wieder stand alles auf der Kippe. Er ließ sich überzeugen und investierte damit sehr viel Vertrauen. Auch bezüglich privater und sehr persönlicher Informationen, die niemals zur Veröffentlichung geeignet waren. Es war für mich selbstverständlich, ihn fair zu portraitieren. Als ich ihm gegen Ende unserer Gespräche eröffnete, dass ich nunmehr etwa 60 Zeitzeugen befragen werde, nämlich seine Anhänger wie auch seine Gegner, reagierte er verständlicherweise mit Skepsis, versuchte aber nicht mich umzustimmen. Die zweite Recherchephase brachte mich in einen Konflikt, denn ich empfand zu ihm Nähe und wusste, dass ich jetzt auf Distanz gehen musste.

Das Buchprojekt war für mich so etwas wie ein „intellektuelles Abenteuer“ in dem Sinne, die wichtigsten Repräsentanten des damaligen Staates und gleichzeitig Personen der kriminellen Gegenseite in einer Interview-Situation kennenzulernen.

Ich habe die Interviews offiziell aufgezeichnet; niemand bestand auf einer autorisierten Fassung der Aussage, selbst Hans-Dietrich Genscher nicht, der mir unter allen das größte Misstrauen entgegenbrachte. Unvergessen, dass sich Helmut Schmidt in seinem Hamburger Büro drei Stunden Zeit nahm oder dass Kurt Rebmann dem Bild entsprach, das ihm vorauseilte. Oder dass die Begegnung mit Friedrich Zimmermann überhaupt nicht meinem zugegebenermaßen Vorurteil entsprach.

Ich profitierte davon, dass sich nicht wenige aus Achtung vor Herold auf eine Zeitzeugenaussage einließen, manche aber auch aus Ablehnung bis hin zur Verachtung. Dies spiegelte sich bei seinen ehemaligen Kollegen im BKA wider; die Zahl seiner Verehrer dort überwog allerdings, er war ein überragender „Chef“, der mit vielen Mitarbeitern auf Augenhöhe verkehrte, die empfanden, „dass ein Raum heller wurde, wenn Herold ihn betrat“. Er setzte mehr Vertrauen in Sachbearbeiter als in schlecht informierte Vorgesetzte.

Der BKA-Chef war seiner Zeit weit voraus. Es verstanden ihn viele nicht, wenn er Erkenntnisse des Dialektischen Materialismus (Mao) in taktische Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung umzusetzen wusste. Oder wenn er trotz massiver öffentlicher Kritik („Gläserner Mensch“, „Orwell 1984“) strategisches Neuland betrat.

Einige meiner personellen Kontakte aus der Recherchephase setzten sich später fort, so zum Beispiel mit Hans-Peter Bull, dem ersten Datenschutzbeauftragten und Widersacher von Herold oder mit der Schwester von Gudrun Ensslin, die damals kriminalisiert worden war, nur weil sie sich wie ein Familienmitglied verhielt.

Seine allererste Reaktion auf das Buch, als es 1998 erschien, war positiv, er habe es, gemeinsam mit seiner Frau, in zwei Tagen gelesen. Nach wenigen Tagen änderte er seine Meinung, zeigte sich betroffen und distanziert, hatte er doch nicht erwartet, dass ich kritischen Stimmen so viel Raum geben würde („Eine Fundgrube für alle, die mir übel wollen.“).

Es folgte dann eine Phase, in der er mit mir haderte, er verharmloste es etwas als „Nörgeln“ und betonte, dass sich trotzdem nichts an unserem Verhältnis ändere. Dass es ein SPIEGEL-Buch wurde, verärgerte ihn vorübergehend, hat ihm doch die SPIEGEL-Berichterstattung übel mitgespielt („Der Sonnenstaat des Dr. Herold“).

Da mein Mentor Michael Naumann Rowohlt verließ, um eine Aufgabe in den USA zu übernehmen und ich mich mit meinem Lektor überworfen hatte, schrieb ich das Buch im Hamburger Verlag Hoffmann und Campe, der es dann als SPIEGEL-Buch vermarktete, was mir nicht unrecht war, denn es förderte die Auflage.

Herold stellte das Buch nie als Ganzes in Frage. Ich vermute, Ratgeber überzeugten ihn dann nach und nach, dass ihm das Buch in Wahrheit ein Denkmal setzte. Auch mögen positive Beurteilungen durch Rezensenten, die ihm wichtig waren, dazu beigetragen haben.

Im Laufe der Jahre wurden Horst Herold und ich Freunde. Das heißt, er bezeichnete mich als einen Freund, und ich erlebte ihn als väterlichen Freund, als wichtigen persönlichen und beruflichen Ratgeber, der u.a. meine Tätigkeit in Polen begleitete. Er hatte sich fast ganz aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und hielt nur zu einem kleinen Personenkreis Kontakt, dem anzugehören ich die Ehre hatte. In den letzten 18 Jahren standen wir in regelmäßiger Verbindung, telefonisch oder überwiegend per Mail, auch durch Besuche in Rosenheim oder Treffen in München.

Horst Herold war ein feinsinniger, feinfühliger, empathischer Mann, der Nähe zuließ und selbst wollte. Er hatte ein weites Herz, und er besaß Humor. Zum Beispiel schickte er mir zum Geburtstag einen Satz von ihm gedruckter Briefmarken, die alle mein Konterfei aufwiesen. Er begleitete meine publizistische Arbeit kritisch und manchmal ablehnend, konnte ungnädig reagieren („bürgerrechtlicher Pathos, der mir manchmal den Blick verdunkele“), oder er bezeichnete einmal meinen NS-Schwerpunkt als Obsession. Vor Kritik an meinen Büchern nahm er mich in Schutz. Für manche Bücher warb er (z.B. „Der weiße Elefant“) und verschenkte sie an Freunde. Ich verteidigte ihn gegen Angriffe der „Kritischen Polizisten“, in deren Vorstand ich zeitweise war.

Horst Herold gehörte zu den wenigen Freunden, die mir außerhalb der Familie am wichtigsten waren. Die mir vor allem in der schwierigen Phase des „Nestbeschmutzers“ über sieben Jahre die Überzeugung und das Selbstbewusstsein gaben, auf dem richtigen Weg zu sein (2001-2008). Als beispielsweise die FAZ schrieb, dass sich mein Buch über die braunen Wurzeln des BKA „wie Mehltau über das Amt ausbreite“ oder ich in einem HR-Life-Interview gefragt wurde, „welche Moral ich besitze, meinen früheren Arbeitgeber in den Schmutz zu ziehen“. Die Bundesregierung erklärte 2001, bezogen auf mein Buch: „Das BKA hat keine NS-Vergangenheit, weil es 1951 gegründet wurde.“

Dass ich diese Zeitepoche des BKA öffentlich machte, akzeptierte Herold als notwendige Distanzierung und stimmte sich mit Jörg Ziercke ab, dem das Verdienst zukommt, als erster BKA-Präsident die Aufarbeitung der Vergangenheit eingeleitet zu haben. Horst Herold hielt die ursprüngliche politische Haltung des BKA für falsch. Er sagte zu mir: „Wäre ich damals noch BKA-Präsident gewesen, hätte ich entschieden: Herr Schenk, hier ist ein ein Büro und hier ist ein Schreibtisch, welche Akten brauchen Sie?“

Herold blieb weiter Mitglied der Gewerkschaft der Polizei, genoss auch deren Rechtschutz. Er war ein überzeugter Sozialdemokrat mit einer wertkonservativen Grundhaltung. Die EG wünschte er sich als ein Europa der Vaterländer. Zum BKA ging er (1970 – 1981) in der Absicht, das Amt technisch zu modernisieren und vor allem die Bearbeitung der Wirtschaftskriminalität aufzubauen, um „die schamlose wirtschaftliche Macht zu bekämpfen“. Doch haben ihn dann Baader-Meinhof und RAF in seiner Verantwortung für die bundesweite Terrorismusbekämpfung überrollt. Politische Divergenzen mit mir haben aber nie dem Vertrauensverhältnis geschadet, in das auch unsere Ehefrauen eingebunden waren.

Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an mich als Anerkennung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit erfolgte auf seine Anregung beim Bundespräsidialamt.

Aus seinem Freundeskreis hat ihn Heribert Prantl noch besser gekannt, mit dem er sich jahrelang regelmäßig in München traf. Niemand hat Herold treffender charakterisiert und auch geadelt, als es Heribert Prantl in der SZ immer wieder meisterhaft formulierte, zuletzt zum 95. Geburtstag und zu Horst Herolds Tod.

Die Beerdigung fand am 20. Dezember auf dem West-Friedhof in Nürnberg statt.

Ich war mir bewusst, dort ehemaligen BKA-Präsidenten zu begegnen, die Herolds Nachfolger waren und ihm nicht das Wasser reichen konnten, indem er mit seiner natürlichen Autorität nolens volens ihre Amtsautorität deklassierte. Sie waren seinerzeit wütend auf mich, den „Nestbeschmutzer“. Bis auf Ziercke ignorierten wir uns auf dem Friedhof.

Reden wurden nicht gehalten, worum die Familie gebeten hatte. So brachte er auch Horst Seehofer im Saal I des Krematoriums zum Schweigen. Der mächtige Kranz des Bundeskriminalamtes war mit unzähligen Rosen geschmückt, das war eine sehr schöne Geste.

Der evangelische Pfarrer wirkte etwas lustlos, vielleicht akzeptierte er nicht die bescheidene Form des Abschieds. Ein Konzertsänger brachte mit seiner erhabenen Stimme Herolds Würde zum Strahlen.

Herzlich und tröstend das Verhältnis zu seiner Tochter, zur Enkeltochter und deren Ehemann. Meine jüngste Tochter Marlène und seine Enkeltochter Alexandra, beide im gleichen Alter, spielten in manchen auch familiären Schilderungen eine Rolle. Alexandra: „Er war ein so lieber Opa, ich vermisse ihn sehr.“

Horst Herold war nicht nur als BKA-Präsident, sondern auch als privater Mensch ein großer Mann.

28.12.2018

 

                                                         

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